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25.10.2024

Neugierige Züchter:innen, Artenvielfalt und autarke Pflanzen

Vom Sommertreffen der Weiterbildung für Pflanzenzüchtende


Text von Ruth Richter

Eine Gruppe von Sanddornbüschen besticht durch den Gegensatz zwischen dem zauberhaft leichten Zittern silbrig-schmaler Blätter und der Konzentration von gedrängten und spitzdornigen Trieben. Genauere Betrachtung schärft die Sinne für die Unterschiede zwischen den fast senkrecht aufstrebenden «männlichen» und die in hüllender Geste ausgebreitete Wuchsform der beerentragenden «weiblichen» Pflanzen.

Solche prägnanten Beschreibungen entstehen, wenn eine Gruppe von Züchterinnen und Züchtern sich zu Pflanzenbeobachtungen zusammenfindet - wie sie am 5./6. September dieses Jahres beim Sommertreffen der Weiterbildung für biodynamische Züchter:innen stattfanden. Der Fonds für Kulturpflanzenentwicklung und die Getreidezüchtung Peter Kunz organisieren diese jährlichen Zusammenkünfte mit dem Ziel, den in den biodynamischen Züchtungsbetrieben angestellten, meist akademisch ausgebildeten ZüchterInnen die Fähigkeit zu vermitteln, das zukünftige Potential ihrer Pflanzen auf dem Feld zu erkennen. Denn die Züchter:innen stehen vor der Herausforderung, die komplexen Interaktionen des Pflanzenwachstums mit Boden, Klima und Jahreslauf zu kennen und in die Selektionsentscheidungen miteinbeziehen zu können. Jedes Jahr gab es seit 2018 im Januar während einer Woche die Gelegenheit, anhand von Beispielen in Theorie und Praxis der goetheanistischen Pflanzenbetrachtung einzutauchen und dabei den Austausch mit den Kolleg:innen von anderen Züchtungsinitiativen zu pflegen. Das jeweilige Thema, wie etwa in diesem Jahr der Vergleich von Nachtschattengewächsen und Gräsern – wird dann beim Sommertreffen in Feld und Garten auf einem der beteiligten Betriebe anhand der vorhandenen Pflanzen vertieft.

2024 hatte erstmals der Verein Hortus officinarum die Züchterkollegen zu sich nach Dornach und Arlesheim eingeladen, um die Vielfalt der hier kultivierten Heilpflanzen kennenzulernen. Diese Gelegenheit wollten wir nutzen, um uns in die Bildungsgesten verschiedener Pflanzenarten aus unterschiedlichen Familien einzuleben. Viele Züchtende arbeiten mit Getreiden, andere mit verschiedenen Gemüsearten, so bot das Thema 2024 mit Gräsern und Nachtschattengewächsen einigen die Beschäftigung mit ihren vertrauten Pflanzen. Aber gerade die Nachtschattenfamilie umfasst auch viele Zier- und Arzneipflanzen, an denen die familientypischen Bildungsmuster noch deutlicher verfolgt werden können. So zeigt sich der Einschlag des Blühimpulses bei dieser Familie in der zeitlichen Entwicklung, aber auch in Wuchs- und Substanzbildung. Es war bereichernd, nicht nur Tomaten, Paprika und Andenbeere, sondern auch Bittersüssen Nachtschatten, Stechapfel, Tollkirsche und Bilsenkraut auf dem Feld anschauen zu können.

Ein wichtiger Bestandteil der Fortbildung sind Aufgaben, die die Teilnehmenden für sich während der Vegetationsperiode mit den Pflanzen durchführen, an denen sie gerade arbeiten. Es geht darum, den Wachstumsprozess der Pflanzen konkret zu erinnern, so dass der Weg von der Keimung bis zum Blühen und Fruchten als Bewegung innerlich nachvollzogen werden kann. Das ist ein Ideal, das nur mit ausgiebigem Üben erreicht werden kann. Das Gespräch in der Gruppe hat gezeigt, dass der Versuch, die Pflanze in verschiedenen Stadien zu zeichnen, hilft, genauer hinzuschauen und auf Details aufmerksam zu werden. Mit fortschreitender Übung wird das Ziel der Aufgabe erreicht: verschiedene Entwicklungsstadien aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Das Ziel dieser intensiven Beschäftigung mit den Wachstumsmustern der bearbeiteten Kulturpflanze ist, die eigene Phantasietätigkeit so zu entwickeln, dass sie nicht Subjektives abbildet, sondern möglichst exakt die Bildebewegungen der Pflanze wiedergeben kann. An dieser Bewegung kann das Potential der Art oder der Linie innerlich erfahren werden. Darin liegen Hinweise für den Selektionsvorgang, die ebenso wichtig sind wie die Bonituren der sichtbaren Merkmale.

Zum Thema «Ein Merkmal kommt selten allein» tauschten der Genetikexperte Johannes Wirz und der erfahrene Getreidezüchter Peter Kunz Gedanken aus. Dank Gregor Mendels Modell wurde es möglich, Merkmale auf Populationsebene präzis zu quantifizieren – man dachte, man habe damit Zugriff aufs Lebendige. Aber es entzieht sich und findet auf anderen Wegen überraschende Hindernisse. Die ersten modernen Weizensorten um 1920 hatten beispielsweise mehr Ertrag. Aber dann begann man mit der Stickstoffdüngung und die Züchtung musste die Halme verkürzen, damit das Getreide nicht umfiel – und in der Folge ging der Ertrag wegen Pilzkrankheiten wieder zurück. Demgegenüber sucht die biodynamische Züchtung nicht einzelne Merkmale zu züchten, sondern Sorten, die an ihrem Ort gute Sorten sind und dennoch eine gewisse Anpassungsfähigkeit haben. Es wird nach einem Ausgleich gesucht zwischen den Umgebungsbedingungen, also dem Lebenszusammenhang und den Pflanzen. Und viele Stämme werden an sehr verschiedenen Standorten geprüft. Durch die Art, wie man züchtet, sollte man nicht die Möglichkeit zur Weitergabe erworbener Eigenschaften verbauen. Wir versuchen in der biodynamischen Züchtung, eine solche Offenheit bei den Pflanzen zu unterstützen.

Eine vertiefte Pflanzenbetrachtung in Kleingruppen leitete den zweiten Tag ein. Wir betrachteten die Heilpflanze Bryophyllum daigremontanum mit der Frage nach dem Wahrnehmen, dem Fühlen und dem Erkennen auf drei verschiedenen Ebenen. Zunächst tauschte sich jede Gruppe über die mit den Sinnen wahrnehmbaren Eigenschaften aus. Im zweiten Schritt suchte man den Zugang zu den Empfindungen, die die Pflanze in uns auslöst. Beim dritten Schritt stellten wir die Frage, was die Pflanze uns sagen will, was ihr Wesen sein mag. An dieser Stelle erfolgte eine Übung zur Wirksensorik, indem die Teilnehmenden eine Tablette mit 50% Trockenextrakt der Pflanze einnehmen konnten. Unerwartet stellte sich eine verblüffende Wirkung in der Gesamtatmosphäre ein: Nach einigen Minuten erst bemerkten wir, dass es im Raum ganz still geworden war. In Übereinstimmung mit der Indikation von Bryophyllum als Heilmittel wurde die Stimmung als entspannt, mit einem leichten Hang zur Träumerei, beschrieben.

Auch wenn man die Pflanze nie zuvor gesehen hat, bringt eine solche Beschäftigung im Austausch mit anderen ein starkes Erlebnis von der Pflanzenart mit sich, der man so intensiv begegnet ist. Dadurch, dass verschiedene Menschen den Ausdruck der Pflanze wahrnehmen und beschreiben, kommen ihre Eigenheiten viel ausführlicher zur Sprache als man das allein beschreiben könnte.

Bei sonnigem Wetter konnten wir auf den Anbauflächen von Hortus officinarum zahlreichen Heilpflanzen begegnen und – weil oft von der gleichen Pflanzenfamilie mehrere Gattungen und Arten vorhanden waren – mehrfach die Metamorphosen innerhalb der Familie im Vergleich innerlich nachvollziehen.

Den Abschluss des Weiterbildungstreffens bildete die Teilnahme an einer Veranstaltung, die als Ergänzung zur Herbsttagung 2023 der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum auf Einladung von Sativa stattfand. Wir wechselten am Nachmittag Ort und Thema und erhielten zusammen mit anderen Teilnehmenden in Rheinau Einblick in das dortige Zuckermais-Züchtungsprogramm. Im Zuchtgarten und auf dem Feld haben uns besonders Maislinien beeindruckt, die in Symbiose mit Bakterien leben, die – wie Schmetterlingsblütler – eigenaktiv Luftstickstoff binden. Diese Pflanzen sorgen also sozusagen selbst für ihre Ernährung. Sie stehen üppig und dunkelgrün auch auf Feldern, die nicht besonders gut mit Nährstoffen versorgt sind. Solche Eigenschaften sind für den Bioanbau zukunftsweisend, da sie den Pflanzen mehr Autarkie verleihen.