IMG_0992.jpg
Pflanzenporträt

Primula veris

Schlüsselblume

Michael Straub, STRAUB ECO-Consulting

Primula veris, die Schlüsselblume, auch Himmelsschlüssel oder Wiesenprimel genannt, kündigt das Ende der Wintertage und den Beginn des ewig neuen Lebens an. Dem Menschen dient diese Kraft, um sein Herz zu stärken und den Weg aus der Melancholie zurück ins Licht zu finden.

Aus der kalten Starre der Winterkräfte tritt die Schlüsselblume wie eine Botin des Lebens hervor. Kaum zieht sich der Schnee zurück, schmücken ihre dottergelben Blüten sonnige Hänge und Wiesen und lassen unser Herz höherschlagen.

Wir finden die Wiesenprimel dann auf trockenen bis wechselfeuchten Wiesen und Halbtrockenrasen, in lichten Wäldern, in weiten Teilen Europas und Asiens bis in 2000 Meter Höhe.

 
Fröhliche Kunde von Licht & Wärme

Natürlich hat in manchem Frühjahr die wärmende Kraft der Sonne bereits grosse Macht auf der Erde erlangt, und die Primel kann sich mit Leichtigkeit ihren Weg zum Licht bahnen. Die Länge des Tages entscheidet wesentlich über den Wachs- und Blühimpuls der Schlüsselblume. Es ist ein eindrückliches Zusammenwirken der urbildlichen Gestaltungskräfte (die in der höchsten Formvollendung, nämlich der Blüte, münden) und der vitalen Wachstumsenergie, die ohne grossen Einfluss von Wärme schon so früh im Jahr zur Vollendung der Pflanzengestalt führen.

Die Schlüsselblume ist eine robuste krautige, teilweise behaarte Staudenpflanze. Der Wurzelstock (Rhizom) ist kurz und kräftig. Längliche, gestielte Laubblätter bilden bodennah einen Rosettenkreis und können bis zu 15 cm lang werden. Die Blattoberseite ist dunkelgrün, die Unterseite hellgrün. Junge Blätter sind nach unten eingerollt. Am Ende des blattlosen, behaarten, bis 30 cm langen Stängels bildet sich eine vielblütige, endständige Dolde mit bis zu 20 Einzelblüten. Jede Blüte besteht aus fünf goldgelben Blütenblättern, mit einem orangefarbenen Tupfer am Blütenboden. Blühzeitpunkt ist je nach Lage März bis Juni.

Wildsammlung und Anbau

Die Schlüsselblume überlebt häufig nur noch in Naturschutzgebieten, wo es generell verboten ist, sie zu pflücken. An anderen Wildstandorten darf sie mit offizieller Genehmigung für die kommerzielle Nutzung gesammelt werden. Der Anbau wurde in den letzten Jahren deutlich ausgedehnt, um die Wildstandorte zu entlasten.

Wasser- und Luftgeistern verbunden

Primula veris bedeutet »die kleine Erste im Frühling«. Traditionell wird sie deshalb dem Tierkreiszeichen Widder (21. März bis 20. April) zugeordnet. Die Naturgeister der Germanen, insbesondere jene, die dem Wasser und der Luft verbunden sind – die Nixen, Undinen und Elfen –, sollen sie geliebt und beschützt haben. Und tatsächlich bringt die Wiesenprimel diese Verbundenheit mit Wasser- und Luft-»Geistern«, mit dem wässerigen und luftigen Element zum Ausdruck durch die schaumige Konsistenz der substanzreichen, aufgeworfenen Blätter und die chemische Struktur der von ihr erzeugten schaumbildenden Wirkstoffe, der Saponine.

Saponine sind Seifenstoffe, die in ihren dünnwandigen Schaumblasen eine Verbindung zwischen dem wässrigen und dem luftförmigen Element, zwischen Flüssigkeiten und Gasen schaffen. Auf dieser Schaumbildung basiert die schleimlösende, auswurffördernde, das Abhusten unterstützende Wirkung der Primel. Schaumverwandte Strukturen finden sich auch in der Lunge, in den Alveolen – den Lungenbläschen, in welchen der Gasaustausch zwischen Blut und Atemluft stattfindet –, was die Beziehung der Primel zu den Atmungsorganen unterstreicht.

Botanische Systematik

Ordnung: Heidekrautartige (Ericales)
Familie: Primelgewächse (Primulaceae)
Unterfamilie: Primuloideae
Gattung: Primeln (Primula)
Art: Echte Schlüsselblume (Primula veris L.)

Inhaltsstoffe

In der Blüte sind Flavonoide, Saponine, Carotinoide sowie Spuren von ätherischem Öl enthalten, in der Wurzel Triterpensaponine, Phenolglykoside wie Primverin und Primulaverin, Salicylsäure und Vitamin C.

Hilfreich für Herz, Lungen und Bewegungsapparat

Als Frühlingspflanze wendet sich die Primel an die Frühlingskräfte im Menschen, die im rhythmischen System – analog zu den Jahreszeiten – zwischen dem Winterhaften des Kopfes und dem Sommer-Wärme-Pol im Bauch ihren Platz haben. Während die schaumig wirkenden Blätter die Beziehung zu Lunge und Atmung zum Ausdruck bringen, ist der leuchtende Blütenwirbel auf dem langen Stängel ein Bild für den Wirbel, den das mit Sauerstoff neu belebte arterielle Blut beim Auswurf aus dem Herzen bildet: die niemals ruhende, unermüdlich sprudelnde Blutfontäne, die mit jedem Herzschlag neuen Schwung erhält. Pflanzen, die sich – wie die Primel mit ihrer Vorliebe für nährstoffarme, kalkreiche Magerrasen – in einem unwirtlichen, feuchtkalten Milieu einrichten, bilden häufig noch eine ganze Reihe von Wirkstoffen wie Vitamin C, Carotinoide und Salicylsäureverbindungen (die der Primelwurzel ihren typischen Geruch verleihen). Mit diesen und ähnlichen Stoffen schützen sich die Pflanzen vor den widrigen Einflüssen aus der Umwelt, vor Infektionen und Fäulnis. Vor allem mit den Salicylsäureverbindungen – die auch in der Rinde der Feuchtigkeit und Kälte liebenden Weide zu finden und Vorläufer von Arzneimitteln wie Aspirin sind – kann man die volksheilkundliche und auch von Kneipp empfohlene Anwendung der Wiesenprimel bei Rheuma und Gicht begründen. Noch heute wird sie in der Anthroposophischen Medizin zusammen mit anderen Pflanzen erfolgreich innerlich und äusserlich bei Erkrankungen des Bewegungssystems eingesetzt.

Mit der Wiesenprimel geht es uns ähnlich wie mit vielen traditionellen Heilpflanzen: Wir wissen aus Mythen und Sagen, dass sie im Mittelpunkt der Heilkunst und der kultischen Verehrung standen. Von ihrer konkreten Verwendung ist jedoch oft kaum mehr überliefert, als dass sie offenbar sehr vielseitig eingesetzt wurden, nicht selten im Sinne eines »Allheilmittels« – wie die Wiesenprimel, die bis ins 20. Jahrhundert bei so unterschiedlichen Beschwerden wie Atemwegserkrankungen, Rheuma, Gicht, Schwindel, Erschöpfung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Gelbsucht, Erkrankungen von Nieren und Harnblase und als Herzmittel verordnet wurde.

»Vergiss das Wichtigste nicht!«

Auf die kultische Bedeutung der Schlüsselblume in Zeiten der Verehrung von Naturgeistern oder -gottheiten lassen zahlreiche Märchen und Sagen schliessen, in denen die Schlüsselblume ganz im Sinne ihres Namens geheime Schätze anzeigt, verborgene Tore aufschliesst und Verbindung zur geistigen Welt herstellt. Im Märchen begegnet der Held oft einer Fee oder einer weiss gewandeten Jungfrau (was vermutlich auf die Elfen der nordischen Mythologie zurückgeht), die ihn einlädt, sich zu bedienen, jedoch ermahnt, das Wichtigste nicht zu vergessen. Daraufhin stopft er sich gierig die Taschen mit dem Schatzgold voll und vergisst dabei das Wichtigste: den Schlüssel selbst. Fortan ist ihm der Zugang zu dem Naturgeist und zur Schatzhöhle verwehrt.

Hier wird die Schlüsselblume mit ihrem Pflanzengeist als Pflanze der Geistesgegenwart dargestellt. Ihre Botschaft ist, sich nicht von Gier und materiellem Gewinn blenden zu lassen, sondern das Wesentliche im Auge zu behalten. »Sei geistesgegenwärtig und lerne, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden«, so könnte man die spirituelle Botschaft des »Himmelsschlüssels« formulieren. So aktuell wie nie zuvor!

Neben reinem Primelwurzeltee haben sich bei akuten Atemwegserkrankungen auch Hustenteemischungen mit anderen schleimlösenden und reizlindernden Pflanzen bewährt, zum Beispiel Eibischwurzel, Anis, Sonnentau, Süssholzwurzel und Thymian. Preiswert und sinnvoll ist es, auf die bereits fertigen Teemischungen zurückzugreifen, die in grosser Auswahl im Handel sind.